Stress im Chor – ein Plädoyer für Empathie
Dieser Artikel ist ein Herzensthema von mir!
Ich freue mich über Austausch mit euch!
„Ich fühlte mich instrumentalisiert!“
„Im wahrsten Sinne wie eine dieser Orgelpfeifen!“ Erzählt meine Freundin, die ihren langjährigen Chor vor – ich glaube – etwa 2 Jahren verlassen hat.
Instrumentalisiert, um die anspruchsvollen Ziele der Chorleitung zu erfüllen. Und doch das Gefühl, nie genug zu sein.
In den Chören scheint es derzeit vermehrt zu rappeln. Die Geschichten ähneln sich. Nach einer Phase der Niveausteigerung im Chor, die recht organisch verlaufen zu sein scheint, gerät der Ehrgeiz – zumeist des Chorleiters – außer Kontrolle.
Aber auch von Seiten des Chores können unrealistisch ehrgeizige Erwartungshaltungen schnell die Stimmung vergällen.
In meiner langjährigen Chorleiterzeit und als Vocal Coach diverser Chöre liegt mir am Herzen, meine Meinung dazu auszudrücken und beide Seiten zu beleuchten und so das Verständnis füreinander zu stärken.
Ich habe selbst viel erlebt und als Vertrauensperson von Chorleitern und Chören viele Geschichten gehört.
Woran liegts?
Ich denke, es ist ein Gesellschaftsphänomen. Derzeit haben wir eine Welt der Extreme, die „Mitte“ dünnt sich immer mehr aus. Mir fallen 2 Extremtendenzen immer wieder auf:
- Schneller, höher, weiter. Selbstoptimierung und das Greifen nach den Sternen macht auch vor ChorleiterInnen und Chören nicht Halt.
- Wellbeeing und Spaß in der Freizeit ohne Verpflichtung. Das Bedürfnis nach Ausgleich ist groß in der Freizeit. Wir haben viele Interessen, möchten aber zugleich nicht zu sehr festgenagelt und gefordert werden. Verständlich. Zudem wird Individualität großgeschrieben.
Beides zugleich ist aber nicht möglich.
Also Hopp oder Flopp? Freizeitsingen ohne Konzert oder Ehrgeiziges Konzert mit Anwesenheitspflicht? Auftreten heißt Proben. Das ist so.
Was ist mit dritten Wegen? Ich halte sie für möglich. Doch sie machen Arbeit.
Aber eine, die sich lohnt. Gemeinsam herausfinden, was möglich ist. Und was realistisch ist.
Und wenn man dann feststellt: Klappt nicht, unterstütze ich jeden, der sein Projekt loslässt. Das macht Platz für neues. Wenn wir miteinander sprechen und uns austauschen. Beide Seiten. Leitung und Sänger.
Mehr später.
Es gibt jedoch mehr Gründe, warum Zündstoff entsteht. Ein Wesentlicher ist, dass es Missverständnisse, unrealistische Erwartungen und zuwenig Kommunikation zwischen beiden Seiten gibt. Ich zeige euch beide auf. Jede verstehe ich. Und jede bekommt aber auch ihr Fett weg, keine Sorge. 😉
Der Dirigenten-Traum vieler Chorleiter. Und warum er für Chor und Leitung oft ins Abseits führt.
Zunächst eine ernstes Wort an die Kollegen, das auch ich mir zu Herzen genommen habe.
Wir Chorleiter träumen oft vom Dirigentenruhm. Davon, uns als Musiker zu verwirklichen.
Aber sehen wir bitte der Realität ins Auge! Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich bei euch, liebe Kollegen, unbeliebt mache, muss ich die Wahrheit jetzt einmal aussprechen.
Ein Amateurchor ist – und auch wenn er semiprofessionellen Anspruch hat – kein Forum, um sich als Musiker oder Stardirigent zu profilieren.
Neben gruppendynamischen Problematiken, die nicht entsprechend thematisiert und reguliert werden, ist der Ehrgeiz des Chorleiters eine fiese Falle, die, wenn sie einschnappt, zerstörend für Choristen und Leitung sein kann.
ISSO. Habe ich lange nicht mehr gesagt 😉
Ich habe in meinen 15 Jahren Chorleitertätigkeit und 10 Jahren Vocalcoach-Dasein – auch als Begleiterin unzähliger Chöre – immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Chor und Chorleitung oft unrealistischen Hirngespinsten hinterherlaufen.
Der Chor steigert sich in seinen Fähigkeiten, und dann setzt immer wieder derselbe Mechanismus ein: Plötzlich steigt es dem Dirigenten zu Kopf. Er will mehr. Alles, was da bereits an Gutem ist, langt nicht mehr. Er ist unzufrieden. Der Ton wird fordernd. Die Termine häufen sich. Die Regeln werden auf das Niveau eines Profichors gehoben.
Beispiel: eine Freundin erzählt, dass in ihrem Hobbychor nun vom Chorleiterin eine 6 Monate Probezeit für Neuzugänge angesetzt wird. Verzeihung, Kollegen, wir sind im Freizeitbetrieb. Wir stellen doch niemanden ein! Dass daraufhin kaum mehr jemand neu dazu kommt, wird dann noch interpretiert als: „es genügen eben wenige unseren hohen Ansprüchen…“
Aaaautsch!
Bedenkt, ihr arbeitet mit Menschen. Ihr habt keine Orgelpfeifen vor euch, und selsbt die würden von euch eine gewisse Pflege einfordern. Gut, mag ein Extrembeispiel sein. Aber im Kleinen ist das auch immer wieder zu erleben. Ich gebe zu: Es ist schwer, die Balance zu finden zwischen fordern und lockerlassen.
Unrealistische Erwartungen seitens des Chores – das schleichende Gift der Beziehung.
Es ist schwer, wenn ein Chor Konzerte singen will, aber der Großteil die notwendige Probendisziplin nicht aufbringt. Ich habe das selber immer wieder durch. Da haben wirs dann – Achtung liebe ChorsängerInnen, jetzt kommen wir mal zu euch – mit unrealistischen Vorstellungen seitens der Sängerinnen zu tun.
Oft ist die Erwartung da, der Chorleiter werde es schon hinbiegen. Irgendwie geht das schon. Konzerte, klar, super. Und wenn ich mal nicht da bin…naja, ich hab ja jetzt eh nicht so die führende Stimme…
Auftreten heißt Proben. Punkt. Wer nicht probt, kann nicht auftreten. Bitte nicht die Verantwortung abladen!
Der Dritte Weg?
Dennoch gibt es ja nicht nur Auftreten oder nicht Auftreten. Es ist möglich, das richtige Maß festzulegen. Muss es das 1,5 Stundenkonzert mit Orchester sein ? Da wäre die Frage: Warum muss es das sein? Sind da nicht ne Menge Konzepte davon, was ein gutes Konzert ist, in den Köpfen?
Gut das ist ein Thema für einen anderen Artikel.
Zurück zur Frage: Kann nicht ein 45 min Programm, gut vorbereitet und mit Freude und Leichtigkeit vorgetragen, die Herzen der Sänger und Zuhörer gleichermaßen bewegen? Oder ein Gemeinschaftskonzert mit einem anderen Chor? Jeder eine Hälfte des Programms und ein gemeinsames Stück?
Zweierlei Frust
Die Situation in kippt in wechselseitigen Frust. Chorleiter haben das Gefühl, die Sänger sind faul und unzulänglich. Die Sänger geraten ihrerseits permanent unter Stress und manche fürchten sich vor ihrer Leitung. Der Druck ist immens. Und der kann sogar krank machen. Ich habe Geschichten von Chorleitern in psychologischer Betreuung gehört. Ich höre von Sängerinnen, die den Chor verlassen mit tiefen Schrammt im Selbstwertgefühl. Die glauben, nicht Singen zu können.
Seele und Stimme leiden
Singen – gemeinsam singen- ist glaub ich so nicht gemeint. Und die Qualität leidet doch letztlich unter dem Druck. Als Stimmtrainerin kann ich beiden Seiten versichern:
Die Stimme leidet und damit die Klangschönheit. Unter Spannung verkrampfen Körper und Atemapparat. Der Klang ist eng. Und gerne mal zu tief. Und das führt zu Stress des Chorleiters, der fordert: „Höher! Ihr seid zu tief.“
( am Rande: Korrekt bemerkt. Dennoch wenig hilfreiche Ansage, aber auch das wäre ein Extraartikel).
Ich verstehe beide Seiten!
Die Chorleiterseite
Ich kann die Situation der Chorleiter verstehen. Ich kenne es aus eigenem Erleben. Da planst du etwas. Und viele kommen und gehen, wies grad passt (so wirkt das auf dich…). Du planst um. Du warnst. Hilft nichts. Du schläfst vor Konzerten mitunter schlecht, weil dir 2 im Sopran 7 Tage vor dem Auftritt sagen, dass sie unerwartet Besuch bekommen, für den sie da sein wollen. Dass sie im Job einspringen müssen. Kurzfristig auf Dienstreise sind. Oder so. Ein Tenor ist krank. Und 2 aus dem Bass fehlten in der Generalprobe unentschuldigt. Du fragst dich: Kommen Sie denn? Soll ich anrufen? Der Restsopran hat sich bei dir ausgeweint: Kannst du nicht jemanden aus deinem Dunstkreis fragen, ob er den Sopran unterstützt?
Also du schläfst schlecht und auch wenn du trotzdem gut schläfst – du hast Extraarbeit am Hals. Du telefonierst, du machst einen Notfallplan, überlegst, ob du die eine oder andere Nummer doch am Klavier begleitest und so „retten“ kannst. Dabei hast du alles von langer Hand geplant.
Ok, manchmal auch ein wenig zu riskant geplant, aber das kommt dann halt auch noch obendrauf.
Die Sängerseite
Und ich kann die Choristen verstehen. Im Beruf und in der Familie gefordert, singst du gern und liebst deinen Chor. Es ist für dich Ausgleich. Und du magst es, dass euer Chef sich schöne Programme überlegt.
Beim Proben merkst du: das ist arbeitsaufwändig. Es ist auch mal anstrengend. Vor allem nach einem langen Tag. Verständlich! Und du fragst dich (zu Recht): „Puh. Isses mir das in der Freizeit wert? Und das eine Lied…Das gefällt mir nicht. Immer wenn wir das proben, geht die Stimmung gegen null bei mir. Zudem war der Tag heute lang. Ich hab grad einfach die Energie nicht mehr. Ich hoff mal, dass die anderen kommen und bleib heut daheim um Kraft zu schöpfen.“
Oder auch oft: „Ich raffe mich aber auf. Mir ist der Chor wichtig. Die Menschen.Und ich weiß ja, dass es mir gut bekommt, wenn ich erstmal da bin. Oh verflixt…schon so spät…ich muss aber los. 5 min bin ich jetzt eh schon zu spät dran…die Kinder haben die Noten verräumt…was solls, ich ras mal los…“
Mein Plädoyer hier ist: Empathie! Die könnt ihr lernen!
Nehmt einander wahr und habt Verständnis! Geht davon aus, dass niemand euch ärgern will. Dass niemand etwas aus böser Absicht tut!
Lasst uns miteinander reden! Chorleiter und Chöre! Klären wir Vorstellungen ab.
Diskutieren gemeinsam ehrlich aus, was es bedeuten würde, dieses Programm zu performen. Ist das für alle leistbar? Wie könnten Alternativen aussehen.
Bitte, liebe Chorleiter Kollegen, nehmt Abschied vom Traum, sich als Musiker und / oder „Stardirigent“ über den Chor zu profilieren. Gestehen wirs uns ein, dass wir das schon gerne wären. Gefeiert. Bejubelt. Das ist total menschlich. Und sich bewusst zu machen, dass das im Amateurbereich nicht geht, kann schmerzen. Und ist doch heilsam. Lasst uns von Musikern zu Pädagogen und Menschenfreunden werden. Die zeigen, wie man etwas singen lernt, die Verständnis aufbringen für die Menschen, die kommen. Die Aber auch Grenzen setzen und Ordnung halten.
Dann bekommt ihr ein Geschenk: Die Proben laufen stressfreier ab. Der Frust wird kleiner.
Dazu dürft ihr mindestens zwei Skills einsetzen: Kommunikation und Selbstreflexion. Euere musikalischen Fähigkeiten allein tragen da nicht weit genug. Aber ich sage aus eigener Erfahrung: Es lohnt sich.
Und bitte, liebe SängerInnen: euer Chorleiter ist ein verletzlich Wesen.
Oft mal sehr sensibel. Eine Musikerseele. Eine Künstlerseele. Das mögt ihr ja auch an ihm. Er gibt euch viel damit. Er reißt euch mit in seiner Musikbegeisterung.
Bitte pflegt ihn.
Macht euch bewusst dass es auf jeden von euch ankommt. Ladet eurem Chef nicht die alleinige Verantwortung auf. Macht euch bewusst, was es mit ihm tut, wenn ihr fehlt. Siehe oben. Redet miteinander. Feilt das Programm zurecht. Sprecht ehrlich mit ihm, wie es euch geht. Macht aber dann auch Lösungsvorschläge. Nicht nur meckern. Sagt ihm auch, was ihr an ihm mögt. Und dass ihr ihn liebt. Auch er ist Mensch.
Auch ihr dürft ehrlich kommunizieren. Und Verantwortung übernehmen. Dann könnt ihr sagen : WIR haben das GEMEINSAM geschafft, das Brahms Requiem.
Statt: ICH habe Brahms Requiem MITGESUNGEN (fühlt ihr den Unterschied?).
Es ist großartig.
Die Chance der Empathie…sich in den anderen einfühlen. Ich wünsche allen beiden Seiten gelingende Schritte in diese Richtung. Und wenn ich euch unterstützen kann, lasst es mich wissen. Von Herzen gern!
Literatur dazu
Vor ich glaube 2 Jahren ist dazu ein tolles Buch erschienen, das ich gern verlinke. Die liebe Corinna Rösel-Tabken hat sich auf sehr konstruktive Art mit dem Thema auseinander gesetzt.
https://www.amazon.de/Kosmos-Chor-Chorrekter-Umgang-m%C3%B6glich/dp/3899121562
Sie ist auch auf Youtube zu finden:
Einfach „Erlebnis Singen“ ins Suchfeld eingeben. Auch meine Mission ist es, Chöre und Chorleiter im gelingende Miteinander zu unterstützen. Gerne auch vor Ort.
Schreibt mir, wie es euch im Chor geht/ging. Lasst uns in Austausch treten, damit wir besser verstehen lernen. Ich freue mich auf Kommentare von SängerInnen und LeiterInnen. Gemeinsam singen ist so wunderbar! Erhalten wirs uns.
Alles Liebe
Antje